Aus den Stuttgarter Nachrichten vom 22.05.2013: 150 Jahre SPD: Martin Burkert zählt im Bundestag zur seltenen Spezies des Arbeiters

24. Mai 2013

Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) gilt als Geburtsstunde der Sozialdemokratie. 150 Jahre später sind die Proletarier unter den SPD-Politikern zur absoluten Ausnahme geworden. Martin Burkert ist einer.

Von Claudia Lepping / erschienen in: Stuttgarter Nachrichten am 22.05.2013

Der Letzte im Karussell 150 Jahre SPD: Martin Burkert zählt im Bundestag zur seltenen Spezies des Arbeiters – Nach Franz Münteferings Abgang ist er da der letzte proletarische Sozialdemokrat

Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) gilt als Geburtsstunde der Sozialdemokratie. 150 Jahre später sind die Proletarier unter den SPD-Politikern zur absoluten Ausnahme geworden.

Von Claudia Lepping / erschienen in: Stuttgarter Nachrichten am 22.05.2013

BERLIN. Martin Burkert hat ein Lesezeichen in „Kürschners Volkshandbuch“ über die laufende 17. Bundestagswahlperiode geklebt. Auf die Seite 297. Unter der Überschrift „Schulbildung“ sind dort die Schulabschlüsse aller Bundestagsabgeordneten aufgelistet. 496 der 622 Parlamentarier haben demnach eine höhere Schule besucht, 57 eine Realschule, 16 eine Berufsfachschule. 41 machen keine Angaben. Nur zwölf Hauptschüler haben den Weg ins Hohe Haus gefunden. Darunter sind zwei Männer von der SPD: Der eine ehemalige Hauptschüler ist Franz Müntefering, der später Industriekaufmann lernte und in die Metallverarbeitung ging. Der andere ist der Eisenbahner Martin Burkert aus Nürnberg.

FranzMüntefering geht, verlässt im Alter von 73 Jahren nach zehn Legislaturperioden einfach die bundespolitische Bühne. Er tut es, wie es seine Art ist: unaufgeregt, leise, mit gebührender Selbstironie und ehrlicher Dankbarkeit. So einen Typen wie Müntefering zu verlieren wiegt für die deutsche Sozialdemokratie schwer. Keiner, der die SPD besser kennt. Keiner, der mit kürzeren Sätzen Politik erklären kann. Keiner, der uneitler einfach Mensch ist. Mitunter auch Machtmensch, aber auch das wird aus einem Menschen, wenn er Generalsekretär, zweimal Parteichef, Vizekanzler und Bundesminister war. Doch Münte hat nie vergessen, woher er kommt. Von der Hauptschule, von der Volksschule, wie er selbst sagte. So wie Kurt Beck. Der lernte Elektromechaniker und ging nach der Bundeswehr in die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr. Auf der Abendschule holte er die mittlere Reife nach, blieb freigestellter Personalratschef und lebte im Grunde für die SPD: Als er in diesem Jahr sein Amt als rheinlandpfälzischer Regierungschef aus gesundheitlichen Gründen niederlegte, war er der dienstälteste Ministerpräsident Deutschlands. „Momentan verlieren Leute wie ich, weil wir keine Direktmandate gewinnen können“ Martin Burkert SPD-Bundestagsabgeordneter

Wenn Franz Müntefering also in diesen Sommerwochen zum letzten Mal das Bundestagsplenum verlässt, hat die Arbeiterpartei SPD, die Partei der kleinen Leute, die Partei, die Aufstieg durch Bildung verspricht, nur noch einen einzigen Hauptschüler in ihren Reihen. Martin Burkert ist durchaus stolz darauf. Erst recht natürlich auf die Ursache seines Alleinstellungsmerkmals: darauf nämlich, dass das Bildungsversprechen der SPD im Bundestag geradezu vorbildlich aufging, indem heute 78 seiner 146 Genossen einen akademischen Grad haben. Sie geben dem SPD Motto „Aufstieg durch Bildung“ Gesicht und Namen. Aber vor allem ist der 48 jährige Franke stolz, der letzte Proletarier zu sein, der für die SPD auf Bundesebene Politik macht. Politik von der Pike auf. Von unten. 150 Jahre alt wird die Sozialdemokratische ParteiDeutschlands in diesem Jahr. An diesem Donnerstag wird im Leipziger Gewandthaus gefeiert, was die Partei Analen und die vielen Kapitel der Geschichtsbücher hergeben. Der Marktplatz nahe dem Pantheon, dem Gründungsort, wird in Rot getaucht sein. Ein BürgerGeburtstagsfest soll es sein, mit der Live Übertragung des Festakts und viel Musik – sogar Die Prinzen wollen aufspielen.

MartinBurkert hat früher Bahn gelebt. Er hat im Stellwerk der Bundesbahn gearbeitet, als die noch nicht Bahn AG hieß, hat Bahnschranken bedient und bei minus zehn, 20 Grad Züge rangiert. Im Schichtdienst. Früh um 3 Uhr aufstehen, und dann: zügig. Mit 16 verlässt er die Hauptschule, obwohl sein Vater, ebenfalls Bahner, will, dass seine drei Kinder länger zur Schule gehen. „Aber ich wollte Geld verdienen“, sagt Burkert. Wenig später besteht er die letzte Vorprüfung der Eisenbahnfachschule für die einfache Beamtenlaufbahn, zwei Jahre später qualifiziert er sich für die mittlere Laufbahn. Er tritt der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands bei. Nach der Bundeswehr, 1988, geht er nach Frankfurt am Main und soll die BahnLehrlinge gegenüber dem Bahn Vorstand vertreten. „Ich war 23 und hatte für meine Arbeit schon eine Angestellte.“ 1990 wird er jüngster Gewerkschaftssekretär und steigt bei der SPD ein: bei der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA). Der WehnerAfA. „Der Onkel“, Herbert Wehner, hatte sie ins Leben gerufen, und dem jungen Burkert ist es, als wehe ihm Geschichte um die Nase. Auf Video sieht er alte Bundestagsreden, in denen Wehner vom Rednerpult keift: „Es gibt Würstchen in diesem Parlament, die sind den Mostrich nicht wert, den man auf sie streichen müsste, um sie genießbar zu machen.“ Oder: „Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen unterworfen. Dies gilt nicht für Minister, die haben keines.“ Burkert saugt alles auf. „Aber in die SPD eingetreten bin ich wegen Helmut Schmidt.“ Dessen Haltung beeindruckt ihn. „Mit Ehrfurcht“, antwortet er auf die Frage, wie er dem 94jährigen früheren Kanzler bis heute begegnet. Genosse Burkert bleibt der Bahn treu. Als Gewerkschafter trägt er in den 1990er Jahren dazu bei, dass die Eisenbahner während der Umgestaltung zur Deutschen Bahn AG nicht auf der Strecke blieben. Als Burkert 2005 über die bayerische Landesliste für die SPD in den Bundestag gewählt wird, sagt der damalige Fraktionschef Peter Struck: „Du wirst Bahnbeauftragter.“ Nebenher wird Burkert einer der vehementesten Widersacher Münteferings. Da streiten zwei politische und soziale Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen um den Kurs jener SPD, die die Politik und viele Entscheidungen in Deutschland ausgerichtet hat.

Im ganzen Bundestag sitzen insgesamt nur sieben Handwerker und Arbeiter

Nun sind die Sozialkassen leer, und ausgerechnet die SPD geführte Bundesregierung muss 2004 schmerzhafte Reformen einführen. Es sind jene älteren Genossen Müntefering und Beck, die die mit dem Nachkriegsaufschwung verbundenen sozialen Wohltaten nicht nur erlebten, sondern auch mitprägten: einen Kurs mit vielen sozialen Wohltaten und staatlichen Investitionen. Martin Burkert erlebt ab 2005 die Folgen der Hartz IV Politik. Der damalige Arbeitsminister Müntefering ringt der SPD unter der Arbeitsmarktreform Agenda 2010 unter Regie von Kanzler Gerhard Schröder die Rente mit 67 ab. Und wer so lange nicht durchhält, sollte nach nur einem Jahr in die Sozialhilfe abrutschten. Münte ringt auch mit sich selbst, setzt sich aber durch. Und Burkert ist auf den Barrikaden. Er, der Arbeiter. Stimmt als einer von elf Abgeordneten gegen den Kurs der Partei. Als die Rente mit 67 um die Voraussetzung ergänzt wird, dass erst mal ausreichend sozialversicherungssichere Jobs für ältere Arbeitnehmer auf dem Markt sein müssen, um die Lebensarbeitszeit tatsächlich verlängern zu können, haben viele SPDler der Partei den Rücken gekehrt. Haben die Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit WASG gegründet und sich später der Linkspartei angeschlossen. „Wir haben erst die Grünen geschaffen. Dann haben wir die Linkspartei geschaffen“, ärgert sich Martin Burkert. „Momentan verlieren Leute wie ich, weil wir keine Direktmandate gewinnen können, solange uns Grüne und Linke die entscheidenden Stimmen wegschnappen und am Ende immer einer von der CSU vorn liegt.“ Martin Burkert sucht sich Auszeiten. Mindestens an einem Abend seiner Siebentagewoche. Zum Nachdenken. Darüber, was die SPD ausmacht, woran sie festhalten und was sie ändern sollte. Darüber, was ihn ausmacht. „Mit der Zeit gehen, aber den Kern erhalten“, zitiert er aus gerechnet Franz Müntefering. Die beiden haben sich ausgesprochen, politisch versöhnt über die veränderte Rente mit 67. Für wen ist er da, für wen macht er diesen Knochenjob in Bundestag und Wahlkreis? Warum ausgerechnet die SPD, Arbeiter Burkert? „Für die abhängig Beschäftigten“, antwortet er schnell. Für die Arbeitnehmer. Für die Mittelschicht. Für alle, die in der Arbeitswelt stehen und Bildung und Rente wollen. Und für eine erfolgreiche Wirtschaft, die Voraussetzung für einen starken Sozialstaat, der die Schwachen und Bedürftigen fördert. „Wir leben vom Grips“, sagt er, „wir haben keine Bodenschätze. Wir brauchen wirklich jeden.“ Der typische Parlamentarier im Bundestag ist durchschnittlich 50 Jahre alt. Er ist Rechtsanwalt oder Beamter und übt vorwiegend Dienstleistungsberufe aus. Handwerker und andere Arbeiter dagegen gibt es insgesamt nur sieben. Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten ist also solide gebildet; wer Abiturmachte, hat meistens auch einen Universitätsabschluss absolviert. Der einfache Arbeiter ist im Bundestag zur absoluten Ausnahmeerscheinung geworden. Martin Burkert, der Eisenbahner, der letzte verbleibende Hauptschüler der Sozialdemokraten, klemmt das Lesezeichen ins Volkshandbuch des Bundestages und geht in sein Abgeordnetenbüro.

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